top of page

Die Arbeit als NGO

Spannungsfelder aushalten und aushandeln

NGOs sind in ihrer Arbeit mit verschiedenen Spannungsfeldern konfrontiert. Diese gilt es zu reflektieren, auszuhalten und auszuhandeln. Der nachfolgende Block nimmt sich ihrer wie folgt an: 

Wie entstehen «Opfer-Stereotype» in der Bekämpfung von Menschenhandel? Neben Behörden und Medien tragen auch NGOs zur Festigung – aber auch zur Infragestellung – solcher Bilder bei. Obwohl sie durch den direkten Kontakt die Vielschichtigkeit der Betroffenen kennen, greifen sie in der Öffentlichkeitsarbeit teils auf vereinfachte und stereotype Darstellungen zurück, weil diese leichter vermittelbar sind. Dies hat negative Auswirkungen, sowohl auf Betroffene, die dadurch nicht erkannt werden, als auch auf Personen, die fälschlicherweise als Opfer verdächtigt werden. 

Ein weiteres Spannungsfeld ist die Finanzierung von NGOs. Der Verlauf der Geschichte zeigt: Mit der zunehmenden Professionalisierung im Bereich Menschenhandel wurden Leistungsverträge immer zentraler für die Finanzierung der FIZ. Wie verändert diese Abhängigkeit unsere Arbeit? Und wie bleiben wir darin unabhängig und unbequem? 

Nicht zuletzt hat die Zunahme von Leistungsverträgen im Bereich Menschenhandel immer wieder Debatten über die feministische Ausrichtung und den Fokus der FIZ ausgelöst. Dies geschieht auch unter der zunehmenden Erkenntnis, dass Menschenhandel nicht nur in der Prostitution stattfindet, sondern auch in anderen Branchen – etwa auf dem Bau, in der Landwirtschaft und in der Gastronomie –, in denen vor allem cis-Männer betroffen sind. Will sich die FIZ weg von ihrem Fokus auf FINTAs* bewegen? Was bedeutet das für unser feministisches Selbstverständnis? 

Neben diesen internen Debatten wächst (international) der externe Druck auf zivilgesellschaftliche Organisationen. Die staatliche Finanzierung von NGOs wird heute zunehmend infrage gestellt, ebenso ihre Rolle in politischen Entscheidungsprozessen. Während der Staat zwar auf ihre Leistungen angewiesen und durch internationale Konventionen verpflichtet ist, sie zu sichern, wird gleichzeitig der Handlungsspielraum von NGOs immer stärker eingeschränkt. Wie bleiben NGOs in der Schweiz in unterschiedlichen Arbeitsfeldern mit diesem eingeschränkten Spielraum handlungsfähig? Und was können wir von ihren Erfahrungen lernen, während wir uns stetig einen Weg durch diese Spannungsfelder bahnen – mit dem Ziel, handlungsfähig zu bleiben, ohne unsere Grundhaltungen aus den Augen zu verlieren?

 «FINTA» steht für Frauen, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans- und agender Personen und die Vielfalt von Geschlechtsidentitäten jenseits der binären Kategorien. Das Akronym soll Menschen, die von Sexismus und patriarchaler Diskriminierung betroffen sein können, benennen und ihre Sichtbarkeit erhöhen.

«Das ideale Opfer»

Serena Owusua Dankwa ist Forscherin und Dozentin für Sozialanthropologie an der Universität Basel. Gemeinsam mit Julie Bernet, die das Projekt im Rahmen ihrer inzwischen abgeschlossenen Masterarbeit im Studiengang «Changing Societies» an der Universität Basel bearbeitete, hat sie 2025 für die FIZ die Recherche «Das ideale Opfer. Der Einfluss von Opferbildern in der Bekämpfung von Menschenhandel» verfasst. Wir haben sie zu ihren wichtigsten Erkenntnissen befragt. 

 

Wie entstehen «Opferbilder» oder «Opfer-Stereotype»?

Um gegen Menschenhandel anzugehen, braucht es eine Vorstellung davon, wer betroffen sein könnte. Es ist einfacher, Opfer zu zeigen, als die Machtverhältnisse, die Menschen zu Opfern machen. In den Medien dominiert oft das Bild der jungen, femininen cis-Frau, die sanft und zerbrechlich wirkt und unwissend in die Sexarbeit gehandelt wurde. Solche Bilder wecken Sympathien und wirken sich auf den Blick von Behörden und Sozialtätigen aus. Dazu kommen Sachzwänge und institutionelle Logiken in der Umsetzung des Auftrags, Menschenhandel zu bekämpfen: Die Polizei braucht Opfer, um an die Täterschaft zu gelangen, und NGOs brauchen Opfer, denen geholfen werden kann, um öffentliches Interesse und Spendengelder zu generieren. 

 

Weshalb sind diese einseitigen Vorstellungen von Betroffenen problematisch?

Plakative Opferbilder ignorieren die Vielfalt und die Komplexität unterschiedlicher Lebensrealitäten. Sie sorgen dafür, dass uns (nur) bestimmte Menschen als rettungsbedürftig erscheinen und die ausbeuterischen Strukturen dahinter unsichtbar werden. Betroffene, die nicht dem Bild der dankbaren Unschuld entsprechen, werden übersehen und bleiben unerkannt. Stereotype Bilder verhindern strukturelle Veränderung.

Hinzu kommt der Kollateralschaden. Mehr Kontrollen, zum Beispiel im Sexgewerbe oder in Privathaushalten, führen zu stärkerer Überwachung, aber nicht zwingend zu mehr Schutz. Zudem fällt auf, dass Schutzmassnahmen für Menschen mit einer EU/EFTA-Staatszugehörigkeit zugänglicher sind. Bei Betroffenen, die keine Möglichkeit haben, legal in der Schweiz zu arbeiten, ist die Chance klein, dass sie sich den Behörden anvertrauen. Die Gefahr ist gross, dass sie kriminalisiert und ausgeschafft werden, bevor sie als Opfer identifiziert werden.

 

Welche Rolle spielen NGOs bei der (Re-)Produktion oder der Infragestellung von Opferbildern?

NGOs und Fachorganisationen spielen sowohl bei der Reproduktion als auch im Hinterfragen von Opferbildern eine zen-trale Rolle. Im direkten Kontakt mit Betroffenen haben sie die Möglichkeit, machtkritische Perspektiven zu entwickeln. Sie wissen um die Vielschichtigkeit der «Opfer». In der Öffentlichkeitsarbeit ist es aber oft einfacher, auf bestehende Bilder zurückzugreifen. Die Herausforderung von Berater*innen besteht darin, den Betroffenen einerseits zu vermitteln, dass sie Opfer (geworden) sind, und zugleich, trotz eines stark limitierten Rahmens, ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu fördern.

 

Die FIZ feiert ihr 40-Jahre-Jubiläum. Konntet ihr beobachten, wie sich auch Opferbilder innerhalb der FIZ über die Jahre gewandelt haben?

Die Darstellungen in den Publikationen der FIZ sind auf alle Fälle diverser und komplexer geworden. Die FIZ gehörte auch zu den ersten Organisationen, die von Fotos auf Illustrationen umgestiegen sind. Zudem gab es von Anfang an eine kritische Auseinandersetzung mit dem Bild der unterdrückten «Migrantin» und der Frage, wie migrantische Frauen die Organisation nicht nur als Klientinnen, sondern als Mitarbeiterinnen prägen können. Im Zuge der Professionalisierung werden weniger Personen mit eigener Migrationserfahrung (erste Generation) angestellt. Eine Spannung zeigt sich auch zwischen einer radikalen aktivistisch-feministischen Positionierung und dem Status als Dienstleistungsorganisation mit staatlichen Aufträgen.

 

Neugierig geworden? Die Studie ist hier abrufbar.

Zwischen Aktivismus und Dienstleistungsarbeit 

Seit 40 Jahren kämpft die FIZ für eine Welt ohne patriarchale, rassistische und geschlechtsbezogene Gewalt. Das ist unsere Vision. Aber eine Vision reicht nicht. Wir müssen in der Realität verankert sein: Wir brauchen Partner*innen, die uns Betroffene zuweisen oder den Zugang zu politischen Prozessen ermöglichen. Wir brauchen nachhaltige Finanzierung, um Infrastruktur zu sichern und Arbeitsplätze zu garantieren. Wir brauchen Vertrauen und müssen unsere Expertise immer wieder unter Beweis stellen, um gehört zu werden und Veränderungen mitzugestalten. Wie viele NGOs bewegen wir uns dabei im Spannungsfeld zwischen Ideal und Realität.

Emilia Roig beschreibt dieses Spannungsfeld für unser Jubiläumsmagazin so:
«Die eigentliche Aufgabe der Zivilgesellschaft besteht darin, das bestehende System kritisch zu hinterfragen, Missstände sichtbar zu machen und – wenn nötig – Veränderung einzufordern. Doch in dem Moment, in dem zivilgesellschaftliche Akteur*innen finanziell vom Staat abhängig werden, verschiebt sich ihr Wirkungsfeld oft: Statt politische Einflussnahme zu betreiben oder strukturelle Ungleichheiten anzuprangern, übernehmen sie zunehmend staatliche Aufgaben im Bereich der Dienstleistung. Aus Lobbyarbeit wird Service Provision. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit Migrationspolitik: Anstatt sich gegen rassistische oder diskriminierende Grenzregime zu stellen, bieten viele NGOs Sprachkurse oder Integrationshilfe an – Leistungen, die eigentlich in die Verantwortung des Staates fallen. So wird Kritik absorbiert und in Fürsorge umgewandelt, ohne dass die Machtverhältnisse angetastet werden.»

Dieses Spannungsfeld muss laufend hinterfragt und benannt werden. Es ist jedoch ein Spannungsfeld, das es auszuhalten gilt. Eine Spurensuche. 

Rollenklarheit ist zentral
Gerade im Bereich Menschenhandel ist die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Akteur*innen und der FIZ als NGO zen-tral. Das Dreieck Opferschutzorganisation, Polizei und Staatsanwaltschaft muss harmonieren. Die meisten Opfer kommen durch polizeiliche Zuweisung in die FIZ. Gleichzeitig ist die Polizei auf Opferschutz angewiesen. Stabilisierte Betroffene, die sich sicher fühlen, sind eher bereit, Aussagen zu machen und mit der Polizei zu kooperieren. Für die Staatsanwaltschaft wiederum ist wichtig, dass Opfer über den langen Verlauf eines Verfahrens gut begleitet werden. Jede Akteurin hat ihre Rolle, ihre Ziele und ihre Haltung – meistens sind diese nicht deckungsgleich. Es gibt Reibungen, Verhandlungen und ja, auch Kompromisse. 
Ein Beispiel: Nach längerer Observation einer Wohnung, in der Menschenhandel vermutet wird, entscheidet sich die Polizei für einen Zugriff mit Sturmmaske und Rammbock am frühen Morgen. Vier potenzielle Opfer und zwei mutmassliche Täter werden angetroffen. Die Opfer sind traumatisiert und misstrauisch. Die Polizei braucht Aussagen, um den Fall vo-
ranzubringen, doch die Betroffenen lehnen jede Kooperation ab und reisen noch am selben Tag ab. Für die FIZ gilt: Betroffene entscheiden freiwillig. Wir legen alle Möglichkeiten dar, unterstützen bei der Umsetzung der Entscheidung. Polizei und Staatsanwaltschaft hingegen sind enttäuscht: Nach monatelanger Arbeit fehlen nun die entscheidenden Aussagen. Wir bekämpfen gemeinsam Menschenhandel, haben jedoch unterschiedliche Rollen und Aufgaben. Rollenklarheit ist für unsere Arbeit unverzichtbar – und zudem gesetzlich verankert. Das Opferhilfegesetz schützt die Selbstbestimmung der Betroffenen und garantiert umfassende Unterstützung ohne Mitwirkungspflicht im Strafverfahren.

Erfolgreiche Kämpfe
Die FIZ hat in den vergangenen 40 Jahren viele Rechte und Zugänge erkämpft. Damit verbunden ist eine wachsende Kostendeckung unserer Leistungen durch den Staat. Denn so wie der Staat für Gesundheitswesen, Mobilität und Bildung verantwortlich ist, verantwortet er auch Schutz, Würde und Rechte für alle Menschen. Diese Verantwortung wurde in den letzten Jahren kontinuierlich gesetzlich verankert und somit demokratisch legitimiert. Das Volk steht dahinter: Opferschutz und Zugang zu Rechten werden gemeinschaftlich getragen.
Immer wieder hat die FIZ in der Vergangenheit neue Lücken bearbeitet und geschlossen. Zuerst mit Pilotprojekten, dann mit Forderungen – diese führten nicht selten zu einer vollständig oder teilweise staatlichen Kostendeckung. Heute beträgt die Finanzierung durch staatliche Gelder 70 Prozent – in ihren Anfängen war die FIZ praktisch vollständig spendenfinanziert. Das ist das Resultat erfolgreicher Kämpfe. Es ist aber auch ein Paradigmenwechsel, in dem Rolle und Haltung laufend hinterfragt werden müssen. Schlussendlich geht es in dieser Debatte im Kern um die Fragen: Woher kommt das Geld? Wie viel Macht steckt darin, wie legitim und demokratisch ist es? Und welches Geld lässt einer kämpferischen, ungemütlichen NGO wie der FIZ am meisten Handlungsspielraum und Unabhängigkeit?
Auch Geld von Spender*innen ist nicht unabhängig respektive wertneutral. Im Diskurs um die Entkriminalisierung der Sexarbeit konnte die FIZ immer wieder auf (neue) Spender*innen zählen – andere haben wir mit unserer Haltung abgeschreckt. Das Gleiche gilt für unser Bekenntnis zu intersektionalem Feminismus und die damit verbundene Öffnung unserer Angebote für trans- und nonbinäre Personen und schliesslich auch für cis-Männer. Zudem ist der Aufwand für den Spender*innenfranken hoch. Für Spendenerfolge müssen Inserate und Kampagnen bei Grossverlagen und Werbefirmen in Auftrag gegeben werden. Wollen wir das? 
Wir brauchen Geld für unsere Klient*innenarbeit und für faire Arbeitsbedingungen unserer Mitarbeiter*innen. Für die FIZ ist der Mix aus verschiedenen Quellen entscheidend: Die Beratung, die Betreuung und der Schutz der Klient*innen sind Aufgaben, die vom Staat übernommen werden müssen. Dafür kämpfen wir seit Jahren. Nur so können wir nachhaltig planen und ein solides fachliches Angebot mit den nötigen Standards bieten. Projekte, um neue Zielgruppen einzuschliessen und nachhaltige Lösungen zu finden, werden über Stiftungen, Fonds und Kirchen finanziert. Das gibt uns den nötigen Handlungsspielraum. Unsere systemkritische Advocacy-Arbeit, mit der wir strukturelle Hürden für Klient*innen abbauen, wird über Spenden finanziert. Das gibt uns die Unabhängigkeit, die wir dringend brauchen. 
Emilia, wir teilen deine Kritik – und wissen, wie schnell Aktivismus im (Dienstleistungs-)Alltag erstickt. Gleichzeitig ist der Schutz vor Gewalt und Ausbeutung Service public – dafür kämpfen wir seit Jahren. Dabei vergessen wir unsere Rolle nicht. Wir lassen uns nicht vereinnahmen, wir bleiben unbequem.

Das Projekt Arbeitsausbeutung 

oder: Wie entstehen neue Projekte in der FIZ?

Eine langjährige Mitarbeiterin bezeichnete die FIZ einmal als «letztes Schlupfloch», als Organisation, die ihre Kämpfe dort ansetzt, wo Lücken bestehen. Wie im vorherigen Beitrag verdeutlicht: Immer wieder hat die FIZ in der Vergangenheit neue Lücken bearbeitet und geschlossen. Oft geschieht dies in Form von (Pilot-)Projekten. Ein Gespräch mit Geschäftsführerin und Projektinitiatorin Lelia Hunziker zeigt am Beispiel unseres jüngsten Projekts zur Arbeitsausbeutung, wie in der FIZ Pionierprojekte entstehen.

Woher kam der Impuls, dass es ein Angebot für Betroffene von Arbeitsausbeutung braucht?
Die FIZ arbeitet individuell und strukturell – Pilotprojekte sind die Transformatoren von der individuellen auf die strukturelle Ebene. Der erste Impuls für neue Projekte geht somit von unseren Klient*innen aus. So auch bei der Arbeitsausbeutung: Es kamen immer mehr Menschen in die FIZ, die in Privathaushalten, in der Reinigung, Gastronomie, Landwirtschaft oder auf dem Bau ausgebeutet wurden.
Als feministische Organisation, die im Rahmen des Kampfes gegen Frauenhandel in der Sexindustrie gegründet wurde, lag der Fokus der FIZ lange auf Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung. Klient*innen der FIZ waren – und sind bis heute – vorwiegend weiblich gelesene FINTAs, die in der Prostitution ausgebeutet wurden. In anderen Branchen und bei anderen Geschlechtern verfügen wir über weniger Erfahrung und Expertise. Die Phänomene und Ausbeutungsformen unterscheiden sich, ebenso wie die Grenzziehung zwischen Arbeitsausbeutung und Menschenhandel je nach Branche anders verläuft. Herkunft, Migrationsstrategien und Geschlecht prägen zudem die Situation der Betroffenen – und beeinflussen auch die Rechtsprechung. Im Prozess erkannten wir, dass wir in Bezug auf Geschlecht und Branchen ein stereotypes Opferbild hatten. 

Wie sah der Weg von der ersten Projektskizze bis heute aus?
Es war nicht leicht. Es brauchte intensive interne Debatten und Transformationen. Ein verstärkter Fokus auf Arbeitsausbeutung bedeutet, dass möglicherweise mehr männlich gelesene Betroffene identifiziert werden. Es stellten sich Fragen zu Rolle und Positionierung der FIZ. Statuten und Leitbild mussten angepasst werden, da sie trotz der schon länger bestehenden Begleitung von cis-Männern und genderqueeren Personen noch binär auf Frauen ausgerichtet waren. Wir fragten uns auch: Geraten feminisierte Branchen ins Dunkelfeld, wenn der Fokus erweitert wird? Gibt es zusätzliche Ressourcen oder verteilen wir den bisherigen Topf bloss neu? Parallel musste Expertise aufgebaut und pragmatische Fragen mussten geklärt werden: Wo werden Betroffene untergebracht? Welche Unterstützung brauchen sie? Muss das Team diverser werden? 
Basierend auf diesen Überlegungen entschieden wir, uns zunächst auf Arbeitsausbeutung in Privathaushalten zu konzentrieren: eine feminisierte Branche, geprägt von grossen Abhängigkeiten, mitten in der Gesellschaft und kaum sichtbar. Nach der Konzeptphase wurde die Finanzierung gesichert und Personal angestellt. Nun gilt es, die Zielgruppe zu erreichen.

Was motiviert dich und die FIZ, unbekannte und steinige Wege einzuschlagen? 
In der neoliberalen Schweiz werden Gesetze vom Kapital für das Kapital gemacht: ein Eldorado für Bereicherung auf den Schultern der Arbeitenden. Aus der Gewerkschaftsbewegung wie auch aus der 40-jährigen Geschichte der FIZ weiss ich: Rechte fallen nicht vom Himmel – sie werden erkämpft. Das motiviert mich, gemeinsam mit der FIZ neue Wege in diesem Eldorado einzuschlagen. 

Gastbeitrag von Suzanne Hoff, Internationale Koordinatorin, La Strada International (LSI)

Zunehmende Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Raums in der Bekämpfung des Menschenhandels

In den letzten Jahren sahen sich zivilgesellschaftliche Organisationen in Europa, darunter auch NGOs zur Bekämpfung des Menschenhandels, mit einer erheblichen Einschränkung ihres Handlungsspielraums konfrontiert. Ursache ist eine Kombination aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen – darunter die COVID-19-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, zunehmende Migration und steigende Lebenshaltungskosten. Diese Entwicklungen haben zum Aufstieg rechtsextremer, migrationsfeindlicher und antidemokratischer Bewegungen beigetragen. 
Die Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Raums wird von verschiedensten Institutionen ausführlich dokumentiert.
12  Die Berichte heben die zunehmenden Einschränkungen friedlicher Versammlungen, die Überwachung öffentlicher Proteste sowie rechtliche und administrative Massnahmen gegen NGOs hervor – insbesondere gegen solche, die ausländische Finanzmittel erhalten. Die Situation wurde durch Kürzungen der Finanzmittel seitens der EU und der USA, darunter die Einfrierung der USAID-Unterstützung Anfang 2025, noch verschärft. Besonders schwierig ist die Lage für NGOs, die sich mit politisch sensiblen Themen wie Migration, Geschlechterfragen sowie sexuellen und reproduktiven Rechten befassen – daher sind auch NGOs, die sich gegen Menschenhandel engagieren, davon betroffen.
Zwischen 2023 und 2024 führte LSI eine Studie unter ihren Mitgliedsorganisationen durch, die weitreichende Einschränkungen für zivilgesellschaftliche Organisationen aufzeigte. Dazu gehören eingeschränkter Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen, administrative Schikanen, instabile politische Verhältnisse und erhebliche Finanzierungsprobleme.

Anerkennung der Rolle der Zivilgesellschaft im Bereich der Bekämpfung des Menschenhandels 
NGOs spielen eine entscheidende Rolle im Bereich der Bekämpfung des Menschenhandels. Sie erbringen wichtige Dienstleistungen wie Opferhilfe, Rechtsbeistand, Interessenvertretung und Sensibilisierung und tragen zur Entwicklung von Politik und Gesetzgebung bei. Viele sind Teil nationaler Identifizierungsmechanismen, leisten psychosoziale Unterstützung und beteiligen sich an strategischen Prozessführungen, um die Rechte der Opfer zu wahren. Internationale und regionale Instrumente unterstützen die entscheidende Rolle von NGOs und fordern eine enge Zusammenarbeit zwischen Staaten und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie deren Beteiligung an der Identifizierung, der Prävention und der Wiedereingliederung von Opfern.
13
Das operative Umfeld für zivilgesellschaftliche Organisationen bleibt jedoch weiterhin schwierig. GRETA – die Überwachungsstelle des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels – hat wiederholt Bedenken hinsichtlich der Marginalisierung von NGOs geäussert. Viele NGOs zur Bekämpfung des Menschenhandels berichten von einer «Scheinbeteiligung» an Gesetzgebungsverfahren, mit begrenztem Zugang zu Konsultationen, kurzen Fristen und oft ignorierten Beiträgen. Regierungen versäumen es auch, NGOs über die Aufdeckung von Opfern des Menschenhandels zu informieren, was die Opferhilfe untergräbt.
Die LSI-Umfrage von 2023 hob Schwierigkeiten beim Zugang zu nationalen und internationalen Geldern hervor, die auf begrenzte Ressourcen, Zugangsbarrieren und verstärkten Wettbewerb zurückzuführen sind. Das Einfrieren von US-Programmen 2025 hat insbesondere NGOs auf dem Balkan und in den ehemaligen Sowjetstaaten getroffen.
Mehrere Länder, darunter Ungarn, Russland und Georgien, haben Gesetze zum Thema «ausländische Agent*innen» eingeführt. In anderen Ländern, darunter Bulgarien, die Slowakei, Serbien, Nordmazedonien und die Ukraine, werden solche Gesetze vorgeschlagen oder diskutiert. Diese Gesetze gefährden den Zugang ausländisch finanzierter zivilgesellschaftlicher Organisationen zu wichtigen Finanzierungsquellen und können deren Aktivitäten unter Strafe stellen.
Zu diesen Belastungen kommt der Aufstieg der «anti-gender»-Bewegungen hinzu, die oft von konservativen oder religiösen Gruppen unterstützt werden und sich gegen Geschlechtergleichstellung, Rechte von LGBTQIA+-Personen und Initiativen zur sexuellen Gesundheit aussprechen. Diese Akteur*innen, die von ähnlichen Bewegungen in den USA beeinflusst sind, schaffen zusätzliche Hindernisse für zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich an der Schnittstelle von Menschenhandel und Geschlechterrechten engagieren.
Nicht zuletzt hat die zunehmende Präsenz grosser internationaler Organisationen und religiöser Gruppen im Bereich der Bekämpfung des Menschenhandels zu einem verstärkten Wettbewerb um Finanzmittel und Personal geführt, was die lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen zusätzlich belastet. Obwohl internationale Rechtsinstrumente ihre Bedeutung anerkennen und fordern, sehen sich zivilgesellschaftliche Organisationen mit administrativen, finanziellen und politischen Hindernissen konfrontiert, die ihre Wirksamkeit beeinträchtigen. Um Menschenhandel wirksam zu bekämpfen, müssen Regierungen sicherstellen, dass zivilgesellschaftliche Organisationen sinnvollen Zugang zur Politikgestaltung, angemessene Finanzierung und Schutz vor Kriminalisierung haben. Eine gleichberechtigte und kooperative Partnerschaft zwischen Staaten, internationalen Organisationen und der Zivilgesellschaft ist dringend erforderlich.

Suzanne Hoff koordiniert das LSI-Netzwerk seit 21 Jahren. Das Netzwerk wurde 1995 gegründet und hat inzwischen 32 Mitglieder in 24 europäischen Ländern. LSI vertritt seine Mitgliedsorganisationen auf EU- und internationaler Ebene und setzt sich für die Bekämpfung des Menschenhandels ein, indem es Einfluss auf die EU-Politik nimmt, seine Mitglieder beim Kapazitätsaufbau unterstützt und ein Forum für Diskussionen und den Informationsaustausch bietet. Die FIZ ist seit 2015 offizielles Mitglied bei LSi. 

Handlungsfähig bleiben

Drei Perspektiven im Schweizer Kontext

Zivilgesellschaftliche Organisationen sind weltweit mit enger werdenden Handlungsspielräumen konfrontiert – auch in der Schweiz. Drei Organisationen, die dieses Jahr Jubiläum feiern, geben Einblick in ihre Arbeitsfelder und zeigen, wie Handlungsfähigkeit vor Ort erhalten und weiterentwickelt wird.
 

Die Aids-Hilfe Schweiz feiert ihr 40-jähriges Jubiläum. Wir haben sie gefragt: 
Wie bleibt ihr als Organisation über vier Jahrzehnte hinweg handlungsfähig, wenn sich die Herausforderungen verändern?

Gegründet 1985 als Reaktion auf die Aids-Krise, hat sich die Aids-Hilfe Schweiz zu einer Schlüsselorganisation für sexuelle Gesundheit und die Rechte besonders betroffener Gruppen entwickelt. In der Anfangszeit ging es ums Überleben – Aids forderte bis heute 6000 Menschenleben in der Schweiz. Heute ist HIV gut behandelbar und wird unter Therapie nicht mehr übertragen. Dennoch erfahren Betroffene weiterhin Diskriminierung. Darüber hinaus haben insbesondere trans Personen, Menschen mit Migrationserfahrung sowie Sexarbeiter*innen nach wie vor keinen chancengerechten Zugang zu Prävention, Beratung und Gesundheitsversorgung – und sind dadurch besonders vulnerabel gegenüber sexuell übertragbaren Infektionen.
Die Herausforderungen haben sich verändert – und mit ihnen auch unsere Arbeit. Die Aids-Hilfe Schweiz hat neue Themen aufgenommen: Substanzgebrauch, Gesundheit von trans Menschen und das ganze Feld der sexuellen Gesundheit, besonders sexuell übertragbare Infektionen wie Syphilis. Wir arbeiten intersektional und Community-verbunden. Wir machen Prävention nicht für, sondern mit Menschen. Angebote wie die Checkpoints, die Onlineberatung von Dr. Gay und zielgruppenspezifische Kampagnen zum Leben mit HIV beweisen: Prävention und Sensibilisierungsarbeit wirken am besten, wenn sie von Betroffenen mitgestaltet werden.
Handlungsfähig bleiben heisst für uns, mit der Zeit zu gehen, ohne unsere Vision zu verlieren: eine Gesellschaft, in der alle ihr sexuelles Leben selbstbestimmt, informiert und gesund gestalten können – mit oder ohne HIV. Diese 40-jährige Geschichte von Mut, Solidarität und Engagement treibt uns an, aktiv dagegenzuhalten, wenn heute antidemokratische Strömungen und soziale Ungleichheit die Rechte und den Zugang zu Schutz und Versorgung für queere Menschen und Sexarbeiter*innen bedrohen.

Alles zum Leben mit HIV.


Die Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich (SPAZ) feiert ihr 20-jähriges Bestehen. Angesichts des aktuellen Klimas zunehmender nationaler Repression gegenüber Sans-Papiers (Menschen ohne Identitätspapiere und gesicherten Aufenthaltsstatus) haben wir sie gefragt: 
Wo bleiben für euch heute Räume für politische oder praktische Verbesserungen?
Vor rund 25 Jahren besetzten Sans-Papiers mehrere Kirchen in der Schweiz. Sie traten zum ersten Mal aus dem Schatten und machten die Öffentlichkeit auf ihre prekäre Lebenssituation aufmerksam. Wenig später entstanden in mehreren Schweizer Städten Beratungsstellen, darunter die SPAZ. 
Die Sans-Papiers-Bewegung, zusammen mit den Anlaufstellen, hat erkämpft, dass Sans-Papiers heute besseren Zugang zu gewissen Grundrechten haben – etwa zu Gesundheitsversorgung via Krankenversicherung und Schulbildung für ihre Kinder.
Diesen über Jahre erkämpften Verbesserungen weht nun stark repressiver Wind entgegen. Anfang Jahr hat das Schweizer Parlament eine Motion zur Systematisierung des Datenaustauschs bei Sans-Papiers durchgewunken. Der Bundesrat ist beauftragt, eine Gesetzesvorlage auszuarbeiten, die den systematischen Austausch von Informationen zu Sans-Papiers zwischen staatlichen Stellen wie Sozialämtern und Spitälern ermöglicht, mit dem Ziel, Sans-Papiers aufzuspüren und auszuschaffen. Die SPAZ lobbyiert zusammen mit den anderen Anlaufstellen, dass die Motion nicht umgesetzt wird, da sie die Grundrechte von Sans-Papiers verletzt.
Im Kontrast zum repressiven Klima auf Bundesebene steht die städtische Politik von Zürich. Die Stadt Zürich versucht, ihre städtischen Dienstleistungen für Sans-Papiers zugänglich zu machen. Dafür arbeitet sie eng mit der SPAZ zusammen. Auch prüft sie zurzeit die Umsetzung der «Züri City Card», einer städtischen Identitätskarte, mit der sich Sans-Papiers sowie alle anderen Stadtbewohner*innen ausweisen können, ohne dass ihr Aufenthaltsstatus bekannt wird. 
Hier zeigt sich: Lokale Handlungsspielräume bleiben wirksam. In Städten entstehen trotz nationaler Repression konkrete Verbesserungen für Sans-Papiers. Diese Entwicklungen sind nicht zufällig, sondern Ausdruck jahrelanger zivilgesellschaftlicher und politischer Kämpfe.

Mehr zur SPAZ.

Nicht zuletzt möchten wir dem Walliser Verein zur Unterstützung von Opfern und Zeugen von Menschenhandel (AVIT) zu seinem ersten kleinen Jubiläum gratulieren. Dafür haben wir das jüngste Mitglied der Plateforme Traite, der Schweizer Plattform gegen Menschenhandel, gefragt:
Im Wallis gab es lange keine spezialisierte Unterstützung für Opfer von Menschenhandel, Betroffene blieben unsichtbar – wie lässt sich unter diesen Umständen eine handlungsfähige Organisation aufbauen?
Die Entstehung des Vereins AVIT war weder eine theoretische Initiative noch ein im stillen Kämmerlein erdachtes Projekt. Sie ging von einer klaren Beobachtung aus: Die Zahl der im Kanton identifizierten Opfer von Menschenhandel lag bei nur 1 bis 2 pro Jahr – für einen Kanton mit über 365000 Einwohner*innen deutlich weniger als zu erwarten.
Zwar stellten Fachkräfte aus Sozialarbeit, Gesundheit und Polizei gelegentlich verdächtige Situationen fest, verfügten jedoch nicht über die Instrumente, um auf die Komplexität dieser Fälle angemessen zu reagieren. Zu oft blieben potenzielle Opfer von Menschenhandel unsichtbar, ihre spezifischen Bedürfnisse wurden innerhalb der bestehenden Hilfsstrukturen ignoriert oder verharmlost.
Dieser institutionelle tote Winkel veranlasste den sozialdemokratischen Staatsrat Mathias Reynard, eine kantonale Studie zum Thema Menschenhandel in Auftrag zu geben. Das führte zu dem Beschluss des Walliser Staatsrats, die Gründung einer spezialisierten Organisation zu unterstützen.
Vor zwei Jahren wurde AVIT unter dem Vorsitz der ehemaligen Nationalrätin Gabrielle Nanchen gegründet – ein Schritt, der angesichts schrittweise sinkender öffentlicher Gelder und in einem Kanton, in dem der nachgewiesene Unterstützungsbedarf damals an einer Hand abzuzählen war, eine gewisse Entschlossenheit erforderte. Nach einer sechs- bis achtmonatigen Aufbauphase ist AVIT nun seit gut einem Jahr operativ tätig.
Dieses erste Jahr im Einsatz zeigt, wie sich eine Organisation in kurzer Zeit handlungsfähig machen kann. 2024 begleitete AVIT 13 Opfer von Menschenhandel; 2025 – Stand August – sind es bereits 11 weitere Personen. Damit konnten bereits 24 Opfer von Menschenhandel unterstützt werden – mehr als die Gesamtzahl der zwischen 2013 und 2023 im Kanton identifizierten Opfer. Das zeigt, dass auch in einem Umfeld mit wenig identifizierten Betroffenen der Aufbau einer wirksamen NGO möglich und wichtig ist.

Mehr zu AVIT.

SPAZ

© FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration 

www.fiz-info.ch

Texte und Interviews: Alicia Adams, Lelia Hunziker, Sole Lüthy, Mia Manaila, Géraldine Merz, Laura Rietschi, Georgiana Ursprung, Fanie Wirth

Redaktion: Mia Manaila, Géraldine Merz, Fanie Wirth

Design: Christina Baeriswyl

​

Mit grosszügiger Unterstützung der Stiftung Zürcher Brockenhaus, 

der Stiftung Temperatio und der Adele Koller-Knüsli Stiftung.

bottom of page