
Die FIZ an zwei Demos. Die Kriminalisierung von und die Gewalt an Migrant*innen waren schon immer Teil unserer Kernthemen. © FIZ

Die FIZ an zwei Demos. Die Kriminalisierung von und die Gewalt an Migrant*innen waren schon immer Teil unserer Kernthemen. © FIZ
Migration
Arbeiten in einem Umfeld, in dem offener Rassismus (wieder) salonfähig ist
Die FIZ bewegt sich nicht nur im feministisch-zivilgesellschaftlichen Umfeld, auch der Aspekt der Migration und der ausländerrechtlichen Bestimmungen gehörte von Beginn an zu unserer Arbeit. Ähnlich wie zur Gründungszeit ist die Stimmung heute (wieder) offen repressiv gegenüber migrationspolitischen Themen. Welche Auswirkungen hat das auf das Leben unserer Klient*innen und auf unsere tägliche Arbeit? Wie versuchen wir, Fortschritte zu erzielen in einem System, das von Rückschritten geprägt ist?
Die FIZ setzt sich für gewaltbetroffene Migrant*innen ein. Im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt hat sich in den letzten vier Jahrzehnten einiges getan – wenn auch noch viel zu tun bleibt. Im Bereich der Migration hingegen sind seit der Gründungszeit der FIZ fast ausschliesslich Verschärfungen in Kraft getreten, was die Rechtslage von Migrant*innen von ausserhalb des EU/ EFTA-Raums betrifft. Hinzu kommt, dass aktuell neue rassistische und migrationsfeindliche Initiativen lanciert werden, die die ohnehin prekären Rechte von Migrant*innen weiter bedrohen. Seit je können viele Migrant*innen nur mithilfe eines Ehe- oder Arbeitsverhältnisses legal in der Schweiz sein. Das macht sie abhängig von Ehepartner*innen oder von den Arbeitgebenden und somit anfällig für Gewalt und Ausbeutung. Sans-Papiers, die von Gewalt betroffen sind, sind erst recht ihren Gewalttäter*innen ausgeliefert, da sie bei einer Anzeige die Ausschaffung riskieren. Der Staat macht sich mit dieser Migrationspolitik indirekt zum Komplizen der Täter*innen, statt den Schutz vor Ausbeutung und Gewalt unabhängig vom Aufenthaltstitel der Betroffenen zu priorisieren.
In diesem Teil erzählt uns die ehemalige Klientin N.P., wie sie das Leben als Migrantin hier in der Schweiz erlebt. Wie wichtig es ist, ganz bewusst einen Gegenpunkt zum negativ geladenen Diskurs zu setzen, zeigt der Artikel zu counter-narratives. Und wie lange es dauert, bis sich politisch und rechtlich wirklich etwas bewegt, erzählt der Artikel zur Geschichte über die mögliche Anpassung des Opferhilfegesetzes, damit auch Opfer von Menschenhandel mit Tatort Ausland endlich Zugang zu Unterstützungsleistungen erhalten. Schliesslich sind auch Sie gefragt: Ein Kreuzworträtsel lädt dazu ein, herauszufinden, was Migrant*innen tatsächlich brauchen.
Interview mit einer Klientin:
«Der Rassismus ist mein grösstes Problem»
Was wäre ein Jubiläumsheft ohne die Stimme einer Klientin? Wir haben mit der ehemaligen FIZ-Klientin N. P.* über ihr neues Leben in der Schweiz gesprochen.
Was bedeutet die FIZ für dich?
FIZ für mich bedeutet viel. Das ist meine Familie in der Schweiz. Oh, Gott. Oh, Nastücher.
Anmerkung der Interviewerin: Sie fühlt sich sehr berührt und weint mit einem Strahlen. Mist, ich habe versucht, eine schöne Atmosphäre zu schaffen, und habe für N. P. auch die FIZ-übliche Schale mit Beruhigungsartikeln wie Rescue-Tröpfchen bereitgestellt. Aber die Taschentücher habe ich vergessen. Ich stehe auf, und finde zwei Päckchen Taschentücher und bin froh, ist ihre Beraterin Emilia* da, damit sich N. P. in solch einem verletzlichen Moment gut aufgehoben fühlt. Sie bedankt sich für die Taschentücher und wischt ihre Tränen weg.
Also, ich komme gern in die FIZ. Wegen Emilia und anderen … Ja, die Menschen. Am Anfang habe ich keine Sprache gekannt. Und niemand. Für mich war es nicht einfach, da zu kommen. Und das ist [jetzt] meine Familie, und ich komme mit Herz. Also, am Anfang, als ich da gekommen bin, [ging es mir] nicht so gut. Ich kann das sagen, ich habe das selber auch gemerkt. Aber die Frauen, die da arbeiten, haben mir so viel geholfen. Und heute geht es mir gut. Und ich schaffe [in] ein Pflegeheim.
Gefällt dir die Arbeit?
Die alten Leute haben mich gern, wenn ich einen Tag frei habe, [fragen sie] immer, «Wo ist N. P.?» Das ist nicht einfach. Das ist die letzte Station für die alten Menschen. Ich versuche, nicht streng zu sein. Sie können machen, was sie möchten. Das ist der letzte Wunsch. Ich mache das gern. Die Angehörigen sind immer freundlich und bringen mir immer etwas. Das ist für mich so viel.
Eben hast du gesagt, am Anfang warst du sehr traurig und dir ging es nicht gut. Geht es dir jetzt besser, bist du manchmal auch glücklich?
Ich kämpfe jeden Tag, aber ich bin glücklich, weil ich alles selber geschafft habe. Jetzt habe ich eine neue Wohnung und Arbeitsplatz. Und ich bin jetzt selbstständig, arbeite. Ich kann nicht sagen, wie [schlecht es mir] am Anfang [ging, als] ich hierhergekommen bin. Und eben, [ich bin] manchmal auch traurig, aber weniger als früher. Ja, das ist normal. Es ist nicht so schlecht wie am Anfang.
Gibt es Situationen, in denen du dich besonders gut fühlst?
Ich habe die Prüfung B1 genommen. Und ich habe geglaubt, ich bestände das nicht. Aber das habe ich bestanden. Und das hat mich sehr glücklich gemacht!
Gratuliere! Und was würdest du sagen, welche Situationen in der Schweiz sind für dich schwieriger?
Rassismus ist schwierig. Manchmal habe ich [so getan, als ob] ich habe es gar nicht gehört. Aber das habe ich laut an der Arbeit gesagt. Ich bin zur Direktorin gegangen. Und ich bleibe für immer so [eine «Ausländerin»]. Aber ich will nicht Rassismus hören. Und was Sprache oder Farbe ist. Wir sind Menschen und wir sind gleich. Und wir haben auch Rechte wie ein*e Schweizer*in. Wir arbeiten auch, bezahlen auch. Die Direktorin war überrascht mit mir. Ich bin immer eine nette und ruhige Person. Aber ich habe auch meine Grenzen. Ich lasse nicht Leute mit mir spielen. Oder immer Mobbing machen. Und am Ende habe ich gesagt, wenn sie nicht reagieren, dann mache ich einfach eine Anzeige.
Das finde ich super, wie du dich für dich einsetzen kannst. Das kostet Mut.
Ich habe so viel Mut. Und ich habe keine Angst, meine Persönlichkeit zu zeigen. Ich bin eine Person, die niemanden in der Arbeit stört. Und ich will niemanden stören. Aber ich will den gleichen Respekt.
Gibt es auch Dinge, die dir in der Zwischenzeit hier in der Schweiz gefallen?
Sicherheit, das gefällt mir da. Ich arbeite bis neun Uhr abends und ich komme nach Hause, ich habe keine Angst. Das habe ich in meinem Land nicht gehabt. Und das ist sehr wichtig für mich.
Was machst du in der Freizeit?
Ich habe nicht so viel Freizeit, aber ich habe ein paar Kolleg*innen, die ich manchmal besuche. Oder ich gehe alleine raus. Wegen der Pflege ist es nicht nur [körperlich] schwer, es ist auch psychisch schwer. Das macht es schwer für die Mitarbeiter*innen. Das kann ich laut sagen. Und manchmal, wenn [es mir nicht so gut geht], will ich einfach allein laufen in der ganzen Stadt.
Hast du irgendeinen Traum für dich? Für deine Zukunft?
Traum? Ja. Mein Traum ist es, meine Diplome zu erkennen [anerkennen zu lassen]. Im Dezember beginne ich. Ja. Und das ist mein Traum. Zuerst muss ich sehr gut Deutsch kennen und B2 bestanden. Und nachher mache ich neun Monate eine Schulung und Prüfungen. Und mein Traum ist, ich möchte eine Familie haben. Kinder, aber wenn ich Glück habe.
Du bist Migrantin in der Schweiz und schätzt die Sicherheit, machst aber auch Erfahrungen mit Rassismus. Was wünschst du dir für Migrant*innen?
Für Migrant*innen ich wünsche Mut und nicht ruhig bleiben. Wenn sie Recht haben, muss man das laut sagen. Und wegen mir schaue ich so viele Migrant*innen, wo sie so viel schlucken und Angst haben, die Wahrheit zu sagen. Man muss gar keine Angst haben. Und wenn etwas nicht stimmt, muss man das laut sagen. Wir haben auch gleiche Rechte wie Schweizer*innen.
Und was würdest du dir in Bezug auf den Umgang mit Migrant*innen von den Schweizer*innen oder von den Schweizer Behörden wünschen?
Für die Schweizer*innen ich möchte sagen, die müssen nicht auf uns runterschauen. Wir sind Menschen, und ein schönes Wort für uns bedeutet viel.
* N. P. heisst in Wirklichkeit anders. Emilia auch.
Counter-narratives als Instrument gegen Stereotypisierung
Narrative über Migrant*innen, über Geflüchtete, über «Menschen von hier» und «Menschen von dort» sind allgegenwärtig und werden gern als «Grund» angegeben, wieso XY in der Schweiz nicht gut läuft. Oft werden Einzelgeschichten als Beweismittel zitiert, Einzelpersonen stellvertretend für ganze Personengruppen angesehen und Fakten situativ verzerrt.
Zum Beispiel wird jährlich nach Veröffentlichung der Schweizer Kriminalstatistik in Zeitungen darüber berichtet, dass «Ausländer» (nicht gegendert) überproportional krimineller sind als Menschen mit Schweizer Pass. Ein zweiter Blick zeigt dann, dass bestimmte registrierte Vergehen von Menschen mit Schweizer Pass gar nicht begangen werden können, zum Beispiel Verstösse gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG). Diese oft negativen Erzählungen, die sich der Stereotypisierung bedienen, schüren Ängste und befeuern Rassismus.
Sowohl Medien als auch Gruppierungen aus der rechten Ecke, die mit Populismus Politik machen, bedienen sich dieser Narrative. Die einen, um Verkaufszahlen anzukurbeln und relevant zu bleiben, die anderen wollen im Namen des Patriotismus – aber eigentlich des Nationalismus – marginalisierte Personen ausgrenzen. Auch klassische Medien, die einmal als differenziert, ausgewogen und verantwortungsvoll galten, zeigen sich hetzerisch, diskriminierend und missachten dabei die Menschenwürde. In der Online-Welt steuern Algorithmen, welche Inhalte wir zu sehen bekommen. Wie einseitig die Inhalte sind, fällt uns oft nicht auf. Die rasante Verbreitung künstlicher Intelligenz verstärkt dieses Phänomen. Fakt ist: Im letzten Jahr verzeichnete das Bundesamt gemäss Medienmitteilung einen Anstieg rassistischer Vorfälle um knapp 40%.25 In dieser Publikation können Sie im Interview mit einer Klientin nachlesen, wie belastend Rassismus sich für sie anfühlt.
Wir bewegen uns immer weiter in Richtung einer gesellschaftspolitischen Landschaft, in der othering26 wieder offen betrieben wird und insbesondere vulnerable Personengruppen dadurch diskriminiert und gefährdet werden. Othering (oder «Veranderung») beschreibt ein Phänomen, bei dem Personen(gruppen) aufgrund verschiedener Identitätsmerkmale als abweichend von der erstrebenswerten «Norm» wahrgenommen und beschrieben werden. Das führt zu einer Abwertung und diskriminiert die als «anders» dargestellten Personen. Othering kann durch unbewusste Annahmen passieren und hängt auch mit der eigenen Sozialisierung zusammen (unconscious bias). Ein Beispiel ist, wenn eine Schwarze Person an einer Party automatisch auf Hochdeutsch oder Englisch angesprochen wird. Die Botschaft: «Du bist nicht von hier» oder «Du gehörst nicht zu uns». Ja, es steckt meist keine Böswilligkeit dahinter – was aber die Botschaft nicht minder diskriminierend und ausgrenzend macht. Und: Diese Botschaft bekommen migrantisch gelesene Personen immer und immer wieder vermittelt, je nachdem, welche anderen Identitäten sie haben, in verschiedenen Ausprägungen.
Wie entstehen aber diese unbewussten Annahmen? Weshalb kategorisieren wir andere automatisch? Der unconscious bias kommt nicht von ungefähr, sondern wir werden – ob wir wollen oder nicht – von dominanten Narrativen geprägt. Diese dienen dazu, Machtstrukturen aufrecht zu erhalten. Zum Beispiel wird das Patriarchat gestützt durch Narrative über «weibliche Eigenschaften», die sich besonders für Fürsorgearbeit eignen, weniger für Politik oder Führungspositionen und ganz bestimmt nicht dazu, sich eine Meinung zu bilden! Solche Narrative halten sich hartnäckig und beeinflussen uns ohne unser Zutun - dagegen muss bewusst und gezielt gesteuert werden.
Was können wir einzeln und gemeinsam dagegen tun? Einerseits können wir uns alle mit unseren biases auseinandersetzen. Wir können uns in unserem Umfeld gegen negative Narrative aussprechen und die dahinterliegenden Muster aufzeigen und im Gegenzug auch Rückmeldungen aus dem eigenen Umfeld als Anlass zur Reflexion und nicht als Kritik annehmen. Dadurch werden wir immer achtsamer in unserem Sprachgebrauch, was das Denken und somit unsere Haltungen und Handlungen mitbestimmt.
Andererseits können wir kollektiv counter-narratives, also Gegenerzählungen, aufbauen und weitergeben. Counter-narratives sind Erzählungen über marginalisierte Menschen, die nicht Stereotype bedienen, sondern sachlich und differenziert sind. Sie schreiben Menschen nicht aufgrund ihrer Identitätsmerkmale gewisse Eigenschaften oder Lebensrealitäten zu. Die FIZ wird oft mit Narrativen über Klient*innen konfrontiert. Es gibt gängige Narrative über Betroffene von Menschenhandel, die eine Täter*in-Opfer-Umkehr vornehmen und Menschenhandel individualisieren. Wir halten dagegen: Menschenhandel hat System (aber die Geschichten sind immer Einzelgeschichten). Auch Sexarbeiter*innen werden mit sexarbeitsfeindlichen Narrativen konfrontiert, die Marginalisierung, Stigmatisierung und Prekarisierung verstärken. Dominante Narrative über Betroffene häuslicher Gewalt verstärken Scham- und Schuldgefühle und erhöhen die Hemmschwelle, sich aus der Situation zu befreien.
Als Beratungsstelle, die sich aktiv für den Schutz, die Würde und die Rechte von Migrant*innen einsetzt, sind wir mitverantwortlich, counter-narratives über unsere Klient*innen zu erzählen und pauschalisierenden Aussagen ein differenziertes Bild entgegenzuhalten. Wir versuchen, die vielfältigen Erfahrungen sichtbar zu machen und die Stimmen der Klient*innen zu verstärken – im vollen Bewusstsein, dass wir Fehler machen und uns laufend hinterfragen müssen. Nur so können wir gegen dehumanisierende Stereotypen und Ideologien Widerstand leisten. Wir wollen die Öffentlichkeit dazu anregen, bestehende Narrative über Migrant*innen und die Machtsysteme dahinter kritisch zu hinterfragen – für eine gerechtere Zukunft dank mehr Empathie und Solidarität für alle.​
Der Begriff Gelukzoeker («Glücksuchende») bezeichnete ursprünglich einen Menschen, der in ein anderes Land oder Gebiet zieht, um dort sein Glück zu suchen, zum Beispiel in Form von neuen Möglichkeiten, einem «besseren» Leben oder materiellem Reichtum. In der öffentlichen Debatte wurde der Begriff zunehmend verwendet, um Asylsuchende nicht als Personen auf der Flucht, sondern auf der Suche nach materiellem Vorteil zu beschreiben. Die NGO Here to Support, die sich für die Rechte von Migrant*innen einsetzt, startete als Gegenerzählung eine öffentliche Kampagne namens Gelukzoekers. Die Kampagne fordert die Dominanzgesellschaft zum Beispiel dazu auf, sich zu überlegen, weshalb sie selbst ihr Glück suchen dürfen, ohne dafür verurteilt zu werden. Sie vermenschlicht Migrant*innen und verbindet, indem sie aufzeigt: Wir alle sind ständig auf der Suche nach dem Glück, und das steht uns allen zu.
Mini-Krimi
Mit der Machete und einer Prise Stoizismus
Chronologie des langjährigen Kampfes für Gesetzesänderungen anhand des Beispiels «Tatort Ausland».
Strukturelle Veränderungen brauchen Zeit. Besonders wenn es um positive Veränderungen und mehr Rechte für Migrant*innen geht. Das wissen wir in der Abteilung Fachwissen und Advocacy. Und doch gibt es Geschäfte, bei denen uns fast der Geduldsfaden reisst: zum Beispiel bei der Tatsache, dass sich die Schweiz seit bald zwei Jahrzehnten weigert, Unterstützungsleistungen für Opfer von Menschenhandel zu übernehmen, die im Ausland ausgebeutet worden sind. Aber jetzt bewegt sich was!
Im September 2025 kam endlich das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts: Die Schweiz ist gestützt auf das ÜBM für die Finanzierung von bestimmten Unterstützungsleistungen für Opfer von Menschenhandel zuständig – auch wenn die Tat im Ausland stattgefunden hat.*
* Gem. Entscheid vom 22. September 2025 (F-4419/2021) sind Art. 10, Abs. 2 sowie Art. 12, Abs. 1 des Übereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels direkt anwendbar und sollen bei den im Urteil betreffenden Leistungen über die Asylsozialhilfe (Art. 80 Abs. 1 AsylG) abgegolten werden.
«Endlich», denn das Urteil kam, …
… 6 Jahre nachdem offiziell das erste Kostengesuch gestellt worden war.
… 16 Jahre nachdem die FIZ die Problematik das erste Mal in ein Positionspapier aufgenommen hatte.
… 21 Jahre nachdem das Komitee zur Ausarbeitung der Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels beschlossen hatte, dass nicht der Tatort, sondern der Ort, an dem ein potenzielles Opfer identifiziert wird, für die Unterstützungsleistungen relevant ist – und damit den damaligen Minderheitenantrag der Schweiz klar abgelehnt hatte.27 Das hielt die Schweiz trotzdem nicht davon ab, 2009 das revidierte Opferhilfegesetz einzuführen, in dem Gewaltbetroffene mit Tatort Ausland vom Zugang zur Opferhilfe ausgeschlossen werden.28
Auch bei der Ratifizierung der Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels 2011 wand sich die Schweiz in diesem Punkt und gab an, dass sie die vom Europarat geforderten Minimalleistungen für Opfer von Menschenhandel mit Tatort Ausland über das Recht auf Nothilfe, das in der Schweizerischen Bundesverfassung festgehalten ist, erfüllen würde.29
Doch weit gefehlt: In der Realität unseres Beratungsalltags war davon nichts zu spüren. Keine Stelle fühlte sich zuständig, alle stützten sich auf «fehlende gesetzliche Grundlagen» für eine solche Finanzierung. Gleichzeitig häuften sich die Zuweisungen von Personen, die im Ausland Opfer von Menschenhandel geworden waren. Bereits der erste Nationale Aktionsplan zur Bekämpfung des Menschenhandels (NAP) 2012–2014 sah vor, «zu bestimmen, wie der Opferschutz [für Opfer mit Tatort Ausland] in der Schweiz gewährleistet wird.»30
Und es passierte … nichts. Die Schweiz wurde in ihrem ersten Monitoring durch die Expert*innenkommission der Europaratskonvention gegen Menschenhandel deutlich dafür gerügt, diese Opfergruppe willentlich von allen Unterstützungsleistungen auszuschliessen. Die FIZ brachte das Thema also auch für den zweiten NAP 2017–2022 auf die Agenda.
Vorgesehen war neu ein Bericht der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), der abklären sollte, ob in der Schweiz hinsichtlich dieser Zielgruppe tatsächlich eine Lücke besteht. 2018 kam die Bestätigung. Im von der SODK beauftragten Bericht gelangen zwei promovierte Juristinnen zu dem Schluss: Es fehlen grundlegende Leistungen wie der Zugang zu spezialisierter Beratung und Unterbringung für Betroffene sowie den dazugehörigen nötigen Übersetzungsleistungen.31 Trotz dieses deutlichen und offiziellen Befundes sowie einer erneuten Rüge der Expert*innenkommission im Monitoring-Jahr 2019 passierte … weiterhin nichts. Das Thema musste auch in den dritten NAP 2023–2027 aufgenommen werden.
In der Zwischenzeit hatten wir die Geduld längst verloren und warteten nicht länger, dass von offizieller Seite etwas passiert: Die FIZ musste handeln, denn die Anzahl Klient*innen mit Tatort Ausland stieg und stieg. Da die kantonale Opferhilfe hier nicht zahlt, mussten Spendengelder dafür eingesetzt werden, die immer knapper wurden.
Aus diesem Grund lancierte die FIZ 2018 ein Pilotprojekt, das zwischen 2019 und 2024 zum grössten Projekt ihrer Geschichte wurde. Dank der Unterstützung der katholischen und reformierten Landeskirchen Zürich sowie des katholischen Stadtverbands erhielten wir die notwendige Finanzierung, um uns dem «Brocken» richtig anzunehmen, und zwar auf allen Ebenen: Wir nutzten die Ressourcen nicht nur für die direkte Unterstützung von Opfern von Menschenhandel mit Tatort Ausland, sondern konnten auch den Druck auf eine nachhaltige finanzielle Lösung für die Zielgruppe verstärken. Alle Hebel in Bewegung setzen. Und das taten wir: von Medienberichten über High-Level-Meetings im Parlament zwischen Parlamentarier*innen und Behördenvertreter*innen bis hin zu ganz praktischen Schritten, wie zum Beispiel die getätigten Beratungsleistungen bei Kantonen und beim Staatssekretariat für Migration (SEM) in Rechnung zu stellen. Mit einigen Kantonen haben wir praktikable Lösungen gefunden; sie finanzieren die Leistungen etwa über die kantonale Asylsozialhilfe. Mit anderen Kantonen nicht. Und das SEM, wichtigster Akteur in dieser Konstellation, schickte uns ebenfalls die Kostengesuche zurück und berief sich per Brief auf die fehlende gesetzliche Grundlage. Erst als wir daraufhin mit einer Anwältin eine anfechtbare Verfügung anforderten, gab es Zugeständnisse: Das SEM war bereit, die ambulanten Beratungsstunden bei uns vor Ort und die dazugehörige Übersetzung zu finanzieren. Ein Zwischenerfolg. Aber der reichte uns nicht. Denn was ist mit nicht abschliessend identifizierten Opfern? Was ist mit der spezialisierten Unterbringung? Was ist mit all den Stunden, die wir für die Koordination und die Vernetzung der Klient*innen aufwenden? Wir reichten beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde gegen die Verfügung des SEM ein – und warteten auf das Urteil, in dem uns das Gericht teilweise Recht gab. Spoiler: Wir warteten insgesamt über vier Jahre darauf.
​
Uns wurde gesagt, wir sollen ruhig weiterträumen – es sei absolut chancenlos, dass das Opferhilfegesetz (wieder) geändert werde. Doch dann die Kehrtwende: Während wir auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts warteten, kam Bewegung ins Parlament. Die Hintergrundarbeit hatte gewirkt, das politische Momentum war günstig. Denn auch die inzwischen von der Schweiz unterzeichnete «Istanbul-Konvention» goutiert nicht, dass Opfer von häuslicher, sexualisierter oder geschlechtsspezifischer Gewalt nur Zugang zur Opferhilfe haben sollen, wenn sie in der Schweiz Opfer wurden oder zum Tatzeitpunkt über einen geregelten Aufenthalt in der Schweiz verfügten.
Die Kritik wurde lauter. Mehr Akteur*innen waren involviert. Es ging nicht mehr nur um Opfer von Menschenhandel, sondern um eine viel grössere Gruppe Gewaltbetroffener mit Tatort Ausland. Und das wirkte: 2022 wurde eine entsprechende parlamentarische Initiative mit dem Titel «Lücke im OHG schliessen. Opfer mit Tatort Ausland unterstützen» in der Rechtskommission des Nationalrats eingereicht und angenommen. 2023 wurde sie aber von der Rechtskommission des Ständerats abgelehnt. Ging zurück an den Erstrat, der erneut annahm. Und dann, im April 2025, kam die Initiative auch im Zweitrat mit acht zu fünf Stimmen deutlich durch. Also doch: Das Opferhilfegesetz soll in dieser Hinsicht geändert werden.
Ob die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts auf unsere Beschwerde eine Grundlage für die detaillierte Ausgestaltung bieten werden? Wir sind gespannt. Und wir haben auch für das nächste Jahr ausreichend Ressourcen in der politischen Arbeit reserviert, um beim Erlassentwurf und bei der Vernehmlassung Einfluss nehmen zu können. Die Arbeit ist noch immer nicht getan. Aber wir sind ein gutes Stück weiter. Dank der Machete und unserem inzwischen reichlich trainierten Stoizismus.
Tatort Ausland
Projektbericht 2019–2023 «Umfassender Schutz für Betroffene von Menschenhandel im Asylbereich».
Magazin von 2021 «Tatort: Ausland».
Artikel 50 AIG
Ähnlich zäh und langwierig war der Kampf bei der Thematik der aufenthaltsrechtlichen Abhängigkeit von Ehepartner*innen: Obwohl es von der FIZ seit ihrer ersten Stunde bemängelt worden war, dauerte es Jahrzehnte, bis das Gesetz endlich geändert wurde. Auch in diesem langjährigen Kampf war die Zusammenarbeit mit anderen Akteur*innen absolut zentral.
Ein Fallbeispiel im Magazin von 2024 auf S. 8.
Vernehmlassungsantwort der FIZ vom Februar 2023 zur Änderung des Art. 50 AIG.